Komplexe Lage: Welche Abzweigung nimmt die Weltwirtschaft?
Steigende Zinsen – das altbewährte Mittel der Zentralbanken, um die Inflation bekämpfen. Die Konjunktur wird gebremst, schlimmstenfalls muss eine Rezession in Kauf genommen werden. Doch bisher ist das genaue Gegenteil eingetreten: Die Wirtschaft gibt Gas und hat vorerst die Ausfahrt in Richtung Abschwung verpasst.
Die Weltwirtschaft beschleunigt
Fakt ist, dass die US-Notenbank schon seit März 2022 und die Europäische Zentralbank (EZB) seit Juli 2022 ihre Leitzinsen in mehreren Schritten angehoben haben. Ein vergleichbar schnelles Tempo bei den Leitzinserhöhungen ließ sich zuletzt vor mehr als 40 Jahren beobachten, als die Inflation in den 1970er-Jahren hohe Werte erreichte.
Bisher stieg der Leitzins in den USA um 5,0 Prozentpunkte und in der Eurozone um 3,75 Prozentpunkte. Die gängigen makroökonomischen Modelle zeigen, dass Leitzinserhöhungen die Konjunktur bremsen und sogar oft Rezessionen zur Folge haben. Eine Wirtschaftsabschwächung reduziert die Nachfrage, sodass Angebot und Nachfrage wieder in ein Gleichgewicht kommen und die Inflation fallen kann. Laut Berechnungen der EZB sollten die Leitzinserhöhungen das Wirtschaftswachstum in der Eurozone 2023 um etwa 2,0 Prozentpunkte und 2024 um etwa 1,5 Prozentpunkte reduzieren.
Doch es ist anders gekommen, als erwartet: Statt einer Wachstumsverlangsamung lässt sich seit Jahresanfang eine Wachstumsbeschleunigung der Weltwirtschaft beobachten. So zeigt der tägliche Indikator des globalen Wirtschaftswachstums, eine Beschleunigung von -0,3 Prozent zu Jahresanfang auf knapp unter 2,0 Prozent bis Ende Mai (s. Abb. 1). Offensichtlich hebeln andere Einflussfaktoren die bremsende Wirkung der höheren Zinsen aus, dazu zählen:
- Starke Arbeitsmärkte und steigende Löhne weltweit
- Eine expansive Fiskalpolitik mit umfangreichen staatlichen Hilfen in der Energiekrise in Europa und Asien sowie Subventionsprogramme wie der „Inflation Reduction Act“ in den USA
- Eine weltweit veränderte Konsumneigung von vermögenden Haushalten nach Pandemie und Krieg
- Eine verbesserte Kaufkraft infolge fallender Rohstoffpreise
- Eine Entspannung der Lieferketten.
Ist das Wachstumstempo auch im zweiten Halbjahr durchzuhalten?
Die Weltwirtschaft wird derzeit von vielen Faktoren beeinflusst. Es stellt sich nun die Frage, wie persistent oder wie vorübergehend der Einfluss der einzelnen Faktoren sein wird. Eine einfache Antwort gibt es dafür leider nicht. Drei Punkte sind hier zu berücksichtigen:
Der erste Punkt ist der Kreditzyklus. Die Weltwirtschaft könnte sich schon im zweiten Halbjahr 2023 signifikant abschwächen. Somit wäre dann die Wachstumsbeschleunigung im ersten Halbjahr nur ein Zwischenhoch, in dem kurzzeitig andere Einflüsse den eigentlich dominanten Faktor – den Zinsanstieg – überlagert haben. Indikator hierfür ist unter anderem die Mini-Bankenkrise in den USA. Die Anleger hatten infolge der gestiegenen Leitzinsen Gelder in großem Umfang bei den kleineren und mittleren US-Banken abgezogen und legten sie in Geldmarktfonds an. Die Folge ist, dass sich Banken merklich zurückhalten bei der Vergabe neuer Kredite. Auch in Europa lässt sich eine Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe beobachten aufgrund der höheren Zinsen. Die Konjunkturschwäche würde dann auch mit einer merklich fallenden Inflation einhergehen, sodass die Zentralbanken Anfang 2024 wieder den Leitzins senken könnten.
Der zweite Punkt ist eine ungewöhnliche zinsunabhängige und robuste Nachfrage aufgrund der Änderung im Konsumentenverhalten und hoher Staatsausgaben. Vor allem die hohe Konsumneigung von Haushalten mit hohem Einkommen, stabile Arbeitsmärkte und die fiskalische Unterstützung könnten den Aufschwung länger tragen. Die Erfahrungen aus Pandemie, Krieg, steigender Inflation und anderen Krisen scheinen bei vermögenden Haushalten zu einer „Konsum jetzt!“-Einstellung geführt haben. Es ist also eine diametral entgegengesetzte Ausgangslage wie vor der Finanzmarktkrise 2008: Damals hatten die vermögenden Haushalte eine sehr hohe Sparquote und finanzierten so indirekt die Kredite der weniger vermögenden Haushalte, die für Konsum und den Kauf von Immobilien verwendet wurden. Es handelt sich derzeit sozusagen um einen „Man lebt nur einmal“-Aufschwung, der nicht vom Kreditzyklus abhängig ist, da die Ersparnisse bei vermögenden Haushalten sehr hoch sind. In diesem Zusammenhang wird auch oft von den hohen Überschussersparnissen gesprochen, die sich während der Pandemie bei den privaten Haushalten angesam-melt haben. In diesem Fall würde jedoch die Inflation nicht wie erwartet fallen, sondern aufgrund eines dynamischen Konsums weiterhin hoch bleiben. Die Zentralbanken müssten in diesem Fall den Leitzins stärker als erwartet anheben. Ein zinsinduzierter Abschwung ließe sich aber nicht vermeiden, er würde nur ins Jahr 2024 verschoben werden.
Und der dritte Punkt ist die Produktivität. So könnte sich das Produktivitätswachstum in den kommenden Quartalen merklich beschleunigen. Der Grund dafür ist der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Wirtschaft und die Automatisierung der Produktionsprozesse. KI-Anwendungen wie ChatGPT-4 sind inzwischen so ausgereift, dass sie sich schon jetzt im Arbeitsleben einsetzen lassen. Laut einer Studie von Goldman Sachs könnten KI-Anwendungen in den kommenden Jahren bei mehr als zwei Drittel aller Arbeitsplätze weltweit zum Einsatz kommen – KI könnte einzelne Aufgaben übernehmen und zum Teil ganze Jobs überflüssig machen. Weltweit wären 300 Mio. Arbeitsplätzen davon betroffen. Als eine Folge dessen könnte sich die Wachstumsrate der Produktivität um etwa 1,0 bis 1,5 Prozentpunkte beschleunigen – vergleichbar mit der „New Economy“ in den 1990er-Jahren. Ein höheres Produktivitätswachstum würde eine merklich fallende Inflation bedeuten. Die Zentralbanken müssten die Zinsen nicht mehr anheben. Leitzinssenkungen wären dann aber auch nicht notwendig, da die Wirtschaft ein höheres Zinsniveau gut verkraften könnte.
Kreditzyklus deutet auf Konjunkturabkühlung
Der Kreditzyklus befindet sich in den USA und Europa eindeutig im Abschwung. In den USA richtet sich der Fokus vor allem auf die kleinen und mittleren Banken, deren Aktienkurse sich weiter im Tiefflug befinden – trotz der Liquiditätsmaßnahmen der US-Notenbank und der Rettung von drei Banken. Die kleineren und mittleren Banken sind makroökonomisch äußerst relevant, weil sie einen großen Teil der Kreditvergabe stemmen – vor allem für Immobilien (s. Abb. 2). Da sich derzeit auch der gewerbliche Immobilienmarkt in den USA abschwächt, ist die Sorge dieser Banken groß, in Liquiditätsschwierigkeiten zu geraten. Die Sicherung von Liquidität dürfte bei diesen Banken im Fokus stehen und auf Kosten der Vergabe neuer Kredite gehen. So zeigen unter anderem die wöchentlichen Daten zur Kreditvergabe schon jetzt erste signifikante Schwächetendenzen.
Auch in Europa stagniert die Kreditvergabe schon seit einigen Monaten (s. Abb. 3). Die Leitzinserhöhungen der EZB haben zu merklich steigenden Kreditzinsen geführt, woraufhin die Kreditnachfrage deutlich nachgelassen hat. Der Kreditzyklus zeigt inzwischen ähnliche Schwächen wie in der großen Rezession 2009 und in der Staatsschuldenkrise 2012. Damals schwächte sich das Wachstum merklich ab, und die Inflation fiel.
Insgesamt haben die Leitzinserhöhungen der Zentralbanken die erwarteten Spuren im Kreditsystem hinterlassen. Auch in den kommenden Monaten ist hier keine Besserung zu erwarten, Konjunkturrisiken bestehen daher nach wie vor.
Konsumlaune ebnet den Weg für eine Konjunkturbelebung
Trotzdem zeigten wichtige Konjunkturdaten wie die Einkaufsmanagerindizes und das Konsumentenvertrauen zuletzt eine merkliche Besserung und signalisierten damit eine Belebung der Konjunktur. Die Nachfrage scheint zu steigen, unabhängig vom Kreditzyklus. Hierfür kommen nur Unternehmen mit hohen Cashbeständen und private Haushalte mit einem hohen Vermögen in Frage. Aufgrund der umfangreichen staatlichen Hilfen während der Coronapandemie stieg in vielen Ländern das Vermögen der privaten Haushalte auf neue historische Höchststände und damit die sogenannten Überschussersparnisse.
Es lässt sich jedoch schwer abschätzen, wie stabil diese Nachfrage sein wird. Denn derzeit ist es unmöglich zu beurteilen, ob die gute Konsumlaune nur vorübergehend ist oder ob sich grundsätzlich die Einstellung der Vermögenden zu Konsum und Ersparnissen verändert hat.
Basisszenario: Abkühlung der Konjunktur im zweiten Halbjahr 2023
Klar ist jedoch, dass ab einem bestimmten Zinsniveau auch die Vermögenden wieder mehr sparen und weniger konsumieren werden. Das heißt, dass die Zentralbanken den Leitzins noch im zweiten Halbjahr weiter anheben müssten, sollte ein Abschwung im zweiten Halbjahr ausbleiben. Verkompliziert wird der Ausblick noch durch die rapiden Fortschritte bei der KI, die sogar die Basis für einen tragfähigen Aufschwung legen könnten. Es ist jedoch unsicher, wie schnell die Unternehmen in der Lage sein werden, die neuen KI-Technologien einzusetzen und anzuwenden.
Derzeit gehen wir in unserem Basisszenario davon aus, dass im zweiten Halbjahr eine moderate Abkühlung der Konjunktur bevorsteht. Aufgrund der anhaltend hohen Inflationsraten bestehen jedoch Risiken, dass die EZB und die US-Notenbank den Leitzins erst einmal stärker anheben müssen, als derzeit an den Finanzmärkten eingepreist. Im Jahr 2024 dürften sich jedoch die Abschwungstendenzen durchsetzen, sodass die Zentralbanken wieder den Leitzins senken könnten. Dennoch beobachten wir die weiteren Entwicklungen genau und haben die alternativen Szenarien im Blick.
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