Fraunhofer-Gespräch – Wege aus der (De-)Globalisierungsfalle
Im Getriebe der globalen Wirtschaft knirschte es in den vergangenen Jahren gewaltig – Gründe waren Krisen und exogene Schocks wie die Coronapandemie oder der Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Lieferketten waren und sind zum Teil immer noch gestresst und angespannt. Eine Entspannung ist nicht in Sicht, zumal die geopolitischen Risiken weiter zunehmen. Die Zeiten der Hyper-Globalisierung sind vorbei, aber gänzlich lässt sich das Rad der Globalisierung nicht zurückdrehen. Wie sich Unternehmen mit ihren Lieferketten resilienter aufstellen können, darüber sprachen Prof. Michael Henke, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund, und Pascal Spano, Leiter Research von Metzler Capital Markets.
Die Globalisierungsgeschwindigkeit schwächt sich bereits seit 2010 ab – haben Coronapandemie und Ukraine-Krieg diese Entwicklung nur beschleunigt?
Henke: Ja und nein. Ja, weil natürlich nach den Krisen der letzten drei Jahre schnell die Rufe nach einer De-Globalisierung lauter wurden, um weiterhin Materialien zur Verfügung gestellt zu bekommen. Nein, weil die jüngste Veröffentlichung zum Beispiel des DHL Global Connected Index zu einem anderen Ergebnis kommt: Dieser Index ist höher als vor Ausbruch der Corona-Pandemie.
Deutschland hat erheblich profitiert von den quasi unbegrenzten Möglichkeiten des Welthandels. Das betrifft Absatzmärkte und Produktionsverlagerung gleichermaßen. Wie steht es um Deutschlands Wachstumsmodell nach dem Ende der Hyper-Globalisierung?
Henke: Die Hyper-Globalisierung ist tatsächlich zu Ende. Allerdings lässt sich die Globalisierung auch nicht mehr zurückdrehen. Deutschland ist nun einmal zum Beispiel mit China eng verflochten und wird es auch – trotz aller mahnenden Worte aus der Politik – zunächst einmal bleiben. Nichtsdestotrotz ist De-Coupling ein langfristiger Trend und verlangt von den Unternehmen eine kontinuierliche Adjustierung der Geschäftsstrategie, um auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb mit anderen Nationen wettbewerbsfähig zu bleiben. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels müssen wir in Deutschland zukünftig viel stärker die Potenziale von neuen Technologien zur Digitalisierung und Autonomisierung der Wertschöpfung heben und uns zu Nutzen machen.
Wir sprechen mit Unternehmen viel über die Resilienz ihrer Lieferketten. Nicht nur, aber eben gerade auch in Krisenzeiten. Was macht ein resilientes Liefernetz aus und worauf müssen Unternehmen achten? Wie kann die Digitalisierung unterstützen?
Henke: Ein resilientes Liefernetz ist durch den Einsatz von neuen Digitalisierungstechnologien, wie künstliche Intelligenz und Blockchain-Technologie, in der Lage, gefährliche Entwicklungen so rechtzeitig vorherzusehen und zu analysieren, dass im Moment des Eintritts von exogenen Schocks Echtzeit-nah von einem davon betroffenen auf einen anderen, davon nicht betroffenen Partner geswitcht werden kann.
Über die Blockchain lassen sich Lieferketten lückenlos nachverfolgen.
Henke: Genau. Und im Idealfall sind in Zukunft entsprechende Handlungsalternativen zum Beispiel in Smart Contracts hinterlegt, sodass tatsächlich quasi automatisch ein Wechsel zwischen Lieferanten ausgelöst werden kann. Hier liefen Unternehmen, in den letzten Jahren und gerade auch in Deutschland, zu oft und sehenden Auges in Lieferschwierigkeiten hinein – bis hin zur Unterbrechung von Lieferketten, die eigentlich absehbar waren. Wenn Unternehmen bereit sind, aus den Krisen der letzten drei Jahre zu lernen, dann können sie ihre gemachten Erfahrungen in neuen Strategien umsetzen.
Die Stärkung der Resilienz und die Förderung einer nachhaltigen Circular Economy sind eng verknüpft mit dem Klimaschutz.
Für viele Vorprodukte lässt sich, eventuell mit etwas logistischem Mehraufwand, der Lieferantenkreis verbreitern und absichern. Anders sieht das bei Rohstoffen aus, mit denen Deutschland und weite Teile Europas nicht so reich gesegnet sind.
Die Lage hat sich ja glücklicherweise in den letzten Monaten wieder etwas entspannt. Nach wie vor sind wir aber gerade in Deutschland noch zu stark von Rohstofflieferanten abhängig, die in den weltweiten Krisenregionen beheimatet sind. Ein erster Schritt aus dieser Abhängigkeit ist das Herstellen von Transparenz, oder anders ausgedrückt: Die klare Kenntnis darüber, von welchen Lieferanten ein Unternehmen in welchem Umfang abhängig ist. Auf dieser Basis können dann Risikomanagement-Strategien entwickelt werden, die nicht nur für Unternehmen in Deutschland, sondern – durch die oben genannten vielfältigen internationalen Verflechtungen – auch in Europa relevant sind.
Gut gefallen uns in diesem Zusammenhang Bestrebungen, eine Circular Economy in Deutschland und in der EU zu etablieren, die dabei unterstützt, die Wirtschaft resilienter zu machen. Nachhaltigkeit trägt dann, neben all den positiven Effekten auf die Umwelt, auch aktiv zur Sicherung der Wirtschaftsleistung bei.
Henke: Zunächst gibt es nicht nur in Deutschland und in Europa, sondern weltweit Aktivitäten hin zu einer Circular Economy. Diese ist wichtig, um einen ganz konkreten Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten und dem Klimawandel aktiv entgegenzuwirken. Nachhaltigkeit und Resilienz können darüber hinaus nicht einfach getrennt voneinander betrachtet werden, sondern sind vielmehr eng miteinander verbunden. Nachhaltige Systeme sind auf Langfristigkeit ausgelegt. Zur Planung eines nachhaltigen Systems gehört daher dazu, die Resilienz solcher Systeme zu stärken: Denn Unternehmen werden immer wieder Krisen durchlaufen, seien es geopolitische, pandemische oder gesellschaftliche. Und nur wenn Wirtschaftssysteme trotz dieser Herausforderungen bestehen können – in Deutschland, in der EU und weltweit – dann können wir von einem nachhaltigen Wirtschaften sprechen. Nachhaltigkeitsinvestitionen müssen dabei als Chance begriffen sowie zu Treibern für Wachstum und Profitabilität gemacht werden.
Aktuell wird auch wieder vermehrt über den schönen Begriff des Friendshoring diskutiert. Nur mit befreundeten Nationen zu handeln ist ein plausibles und einfaches Konzept. Aber leider ist die Wirklichkeit etwas komplizierter.
Henke: Ich persönlich glaube, dass Friendshoring im Lichte der Krisen, die zur neuen Normalität geworden sind, zwar ein durchaus verständliches Bestreben von Unternehmen gerade in der westlichen Welt ist. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen weltweiten Verflechtungen erscheint mir allerdings Friendshoring, genauso wenig wie Nearshoring, ein wirklich umfassend erreichbares Ziel zu sein. Disruption in einer fragilen geopolitischen Lage ist als Normalzustand anzusehen. Die weltweiten Handelsströme, die hoffentlich frei bleiben, müssen demzufolge immer wieder hinterfragt und angepasst werden. Auch Friendshoring kann dabei situativ als Konzept zum Einsatz kommen, aber nicht immer und nicht überall.
Der Einsatz von Technologien sichert die inländische Produktion trotz Fachkräftemangels.
Viele der Probleme, vor denen wir heute stehen, resultieren daraus, dass ganze Branchen die Fertigung fast vollständig nach Asien verlegt haben. In der Chip- und Medikamentenherstellung wird überlegt, Teile der Fertigung zurückzuholen. Wie konkret sind Reshoring-Pläne in Deutschland, der EU oder den USA?
Henke: Gerade der jüngste Apothekenstreik in Deutschland hat deutlich gemacht, dass die Wertschöpfungsprozesse in der Pharmaindustrie alles andere als optimal sind. In der Chip-Industrie nimmt Deutschland gerade viel Geld in die Hand, um internationale Schwergewichte bei uns anzusiedeln. Letztlich ist aber die Tatsache, dass Unternehmen aus solchen Branchen vor vielen Jahren ihre Produktionsschwerpunkte ins Ausland verlagert haben, den unattraktiven, politischen Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa sowie den hier herrschenden vergleichsweise hohen Lohnkosten geschuldet. Auch die US-amerikanische Regierung versucht zum Beispiel durch hohe Subventionen Unternehmen ins eigene Land zu locken und einer De-Industrialisierung entgegenzuwirken. Ketzerisch könnte dazu sogar gesagt werden, dass bestimmte Industrien erst aus den genannten Ländern und Regionen vertrieben worden sind, um sie nun mit viel Geld wieder zurückzuholen. Zu den konkreten Plänen möchte ich mich hier gar nicht äußern, es wird aber länger dauern, als es dem ein oder anderen lieb ist. Letztlich muss die Politik die entscheidenden Weichen dafür stellen.
Viele Jahre hat die Verlagerung von Produktion in Niedriglohnländer oder Regionen mit insgesamt günstigeren Rahmenbedingungen für niedrigere Preise und gesunde Unternehmensgewinne gesorgt. Jetzt scheint das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen. Die Gretchenfrage lautet: Schaffen wir es, den durch das Zurückholen von Fertigung ins eigene Land drohenden Preisauftrieb mithilfe Technologie-getriebener Effizienzgewinne abzufedern?
Henke: Allein schon vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels müssen wir schnellstmöglich die Technologien zum Einsatz bringen, die wir heute in Händen halten. Wenn uns das zukünftig in viel höherem Maße als heute gelingt, dann können wir auch in einigen Jahren noch Produkte und Produktgruppen im eigenen Land fertigen und die dafür aufgerufenen Preise bezahlen. Dafür ist neben einer Veränderung der politischen Rahmenbedingungen – inklusive des zwingend notwendigen Bürokratieabbaus – auch unumgänglich, die Technology-Gaps zwischen Shop-Floors und Top-Floors zu schließen.
Aus der Politik kommen, neben allerhand kontrovers zu diskutierenden Entscheidungen, zuletzt auch positive Impulse den Wirtschaftsstandort Deutschland „wetterfest“ zu machen. Der kollektive Wohlstandsverlust durch strukturell höhere Güterpreise ist vermeidbar?
Henke: Wenn das vorher Gesagte eintritt, kann das der Fall sein. Im ersten Schritt muss es uns aber zunächst gelingen, die Lieferketten wieder zu stabilisieren, in allen Branchen, die von den Krisen der letzten Jahre betroffen waren bzw. immer noch sind.
Prof. Dr. Michael Henke ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik IML und Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmenslogistik (LFO) der Fakultät Maschinenbau der Technischen Universität Dortmund. Zudem ist er Adjunct Professor for Supply Chain Management an der School of Business and Management der Lappeenranta University of Technology in Finnland. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem in den Bereichen Management der Industrie 4.0 und Plattformökonomie mit besonderem Fokus auf Blockchain und Smart Contracts, Financial Supply Chain Management und Supply Chain Risk Management, aber auch auf Einkauf, Logistik und Supply Chain Management.
Michael Henke studierte Brauwesen- und Getränketechnologie an der Technischen Universität München, wo er im Anschluss an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften promovierte und habilitierte. Während und nach der Habilitation arbeitete er für die Supply Management Group SMG in St. Gallen. Von 2007 bis 2013 forschte und lehrte Michael Henke als Professor an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht.
Pascal Spano ist seit 2017 bei Metzler tätig und leitet den Bereich Research im Kerngeschäftsfeld Capital Markets. Vor seiner Tätigkeit bei Metzler war er von 2013 bis 2017 Geschäftsführer des von ihm mitgegründeten FinTech-Unternehmens PASST Digital Services GmbH in Köln. Davor leitete Herr Spano zwei Jahre den Bereich Cash Equities bei der UniCredit Group in München und Frankfurt am Main. Für die Credit Suisse Ltd. verantwortete er von 2007 bis 2010 als Head of German Research die Analyse deutscher Aktiengesellschaften. Zuvor war Herr Spano über zehn Jahre bei der Deutschen Bank im Bereich Global Markets Research tätig und baute für ABN Amro die deutschen Research-Aktivitäten aus Frankfurt und London mit auf. Nach absolvierter Bankausbildung und berufsbegleitendem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der FernUniversität in Hagen ist er seit rund 20 Jahren Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Finanzanalyse.