Risikoszenario 2024: Werden die Staatsschulden zu einem Problem?
Steigender Trend bei Staatsschulden
Laut OECD dürfte sich die Staatsverschuldung im gesamten OECD-Raum im Jahr 2023 bei etwa 113 Prozent des BIP eingependelt haben und damit nahezu unverändert zum Vorjahr geblieben sein. Noch im Jahr 2020 betrug die Staatsverschuldung etwa 128 Prozent des BIP. Die hohe Inflation der vergangenen Jahre konnte somit zu einem merklichen Rückgang der Staatsverschuldung beitragen. In diesem Jahr wird jedoch wieder mit einer Rückkehr zu einem steigenden Trend und einem Anstieg der Staatsverschuldung auf 114,5 Prozent des BIP gerechnet. Vor der Pandemie betrug die Staatsverschuldung noch etwa 108 Prozent des BIP.
Es stellt sich nun die Frage, ob eine steigende Staatsverschuldung überhaupt eine relevante Größe für die Finanzmärkte ist. Immerhin steigt die Staatsverschuldung schon seit 1974 kontinuierlich – sie betrug damals noch etwa 36 Prozent des BIP –, ohne größere Probleme zu verursachen.
Sind Staatsschulden überhaupt eine relevante Größe?
Die Rolle der Staatsschulden in einer Volkswirtschaft ist komplex, daher ist ein Blick auf die Natur unseres Geldsystems notwendig.
In seinem natürlichen Zustand ist unser Geldsystem mit Monopoly vergleichbar. Bei Monopoly ist die Bank immer zahlungsfähig und geht niemals bankrott, sondern nur die Spieler. Steuern und Abgaben haben bei Monopoly die Funktion, die ausstehende Geldmenge zu reduzieren, sodass einer der Spieler schneller pleitegeht.
Die Bank bei Monopoly entspricht in unserem Geldsystem in seinem natürlichen Zustand der Einheit von Regierung und Zentralbank. Die Zentralbank druckt das Geld, die Regierung gibt es aus. Steuern haben dann die Funktion, die durch die Staatsausgaben entstandene Geldmenge wieder zu reduzieren, um damit die Inflation zu begrenzen. Auch Staatsanleihen haben diese Funktion, da dadurch das Geld der privaten Wirtschaftsakteure geparkt wird, sodass es nicht nachfragewirksam wird. So gab das Deutsche Kaiserreich erst das Geld zur Finanzierung des Ersten Weltkriegs aus, und erst später folgte dann die Emission von Kriegsanleihen, um das entstandene hohe Geldvolumen bei den privaten Akteuren zu parken. Eine hohe Inflation im Inland sollte dadurch verhindert werden.
Die Staatsverschuldung ist daher nur eine Buchungsgröße und komplett irrelevant. Das große Risiko ist jedoch, dass eine Regierung mit Zugriff auf die Notenpresse viel zu viel Geld ausgibt, ohne ausreichend Steuern zu erheben. Die Folge war in Vergangenheit regelmäßig eine viel zu hohe Inflation.
Die Lösung: Eine Modifizierung des Geldsystems
Eine hohe Inflation ist grundsätzlich mit großen makroökonomischen Schäden und einem erheblichen Vertrauensverlust in das politische System verbunden. Dementsprechend wurde das Geldsystem modifiziert, um es inflationsresistenter zu machen.
Zusammenfassung des Jahresausblicks 2024 (Teil 1)
- Die Staatsfinanzen in den USA sind in einer prekären Verfassung
- Es drohen hohe Staatsdefizite über einen langen Zeitraum
- Es besteht eine große Abhängigkeit von ausländischen Anlegern
- Damit sind die USA anfällig für einen Vertrauensverlust der Anleger
- Der Wahlkampf bzw. der Ausgang der Wahl 2024 könnte ein Auslöser dafür sein
- Es könnte zu einer Phase von Turbulenzen bei US-Staatsanleihen und dem US-Dollar-Wechselkurs kommen
- Es wäre aber ein Weckruf für die Politik, die Defizite wieder merklich zu verringern
- Großbritannien könnte eine Blaupause dafür sein
- Grundsätzlich sehen wir vor dem Hintergrund der unsoliden US-Fiskalpolitik auch ohne Turbulenzen einen in der Tendenz schwächeren US-Dollar im Jahr 2024
So wurden die Zentralbanken politisch unabhängig gemacht und die Geldproduktion an die privaten Geschäftsbanken ausgelagert. Die Notenpresse wurde sozusagen den Politikern entzogen.
Damit änderten sich aber auch die Spielregeln. Staaten brauchen nun die Einnahmen aus Steuern und aus der Emission von Staatsanleihen zur Finanzierung ihrer Ausgaben. Und sie können nun auch eine Staatsschuldenkrise erleiden wie Griechenland 2010 und Zypern 2013, als sich die EZB gegen den Kauf von Staatsanleihen beider Länder entschied.
Natürlich gibt es auch Grauzonen. So kann das TPI (Transmission Protection Instrument) der EZB interpretiert werden als einen Rückfall in das alte Geldsystem, da die EZB in Zeiten von Stressphasen an den Finanzmärkten die Staatsanleihen der von den Turbulenzen betroffenen Staaten kaufen wird. Damit hat die EZB das Risiko einer Staatsschuldenkrise eliminiert.
Die EZB hat aber gleichzeitig eine Bedingung genannt: Nur die Mitgliedsstaaten werden gerettet, die eine grundsätzlich solide Fiskalpolitik betreiben. Solange die Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion keine exzessiven Staatsdefizite aufweisen, gehen nämlich vom potenziellen Kauf der Staatsanleihen durch die EZB keine Inflationsrisiken aus. Es findet dann nur eine Reallokation innerhalb der Portfolios der Anleger statt – von Staatsanleihen zu Cash.
Darüber hinaus gibt es grundsätzlich eine Tendenz von Regierungen, das modifizierte Geldsystem zu schwächen, um wieder mehr Einfluss über die Geldproduktion zu bekommen. Das beste Beispiel dafür ist die Türkei, wo die Zentralbank de facto nicht mehr unabhängig ist und private Geschäftsbanken unter großem staatlichen Einfluss stehen. Die Folge ist ein exzessives Geldmengenwachstum und Inflationsraten von bis zu 85 Prozent. Über eine Schuldenkrise spricht jedoch in der Türkei niemand. Aufgrund der hohen Inflation ist die Staatsverschuldung zuletzt wieder auf nur etwa 34 Prozent des BIP gefallen.
Verschuldungsdynamik im internationalen Kontext
Die Rolle der Staatsverschuldung muss jedoch nicht nur im nationalen Kontext, sondern in unserer globalisierten Welt vor allem im internationalen Kontext betrachtet werden. Ausländische Investoren können nämlich hierbei eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung von Staaten spielen. Grundsätzlich gibt es drei Fälle:
- Akzeptieren ausländische Exporteure nicht die heimische Währung, muss ein Land bei Importüberschuss Fremdwährungskredite aufnehmen
- Staatsdefizite können vollständig durch inländische Ersparnisse in heimischer Währung finanziert werden
- Staatsdefizite lassen sich zwar in heimischer Währung, aber nur mithilfe ausländischer Investoren finanzieren
Argentinien ist ein Paradebeispiel für den ersten Fall. Die Ersparnisse im Inland reichten nicht aus, um die Staatsdefizite zu finanzieren. Daher war Argentinien gezwungen, Fremdwährungskredite aufzunehmen, da die ausländischen Exporteure keine Zahlungen in argentinischen Pesos akzeptierten.
In der Regel finanzierten ausländische Investoren Argentinien für mehrere Jahre, bis die Kapitalflüsse aus dem Ausland zu einem Stillstand kamen – aus unterschiedlichen Gründen wie zum Beispiel Leitzinserhöhungen der US-Notenbank. Die Folge war eine Staatsschuldenkrise mit Schuldenschnitt. Trotz zahlreicher Schuldenkrisen lohnte sich für ausländische Investoren per Saldo eine Anlage in Argentinien1. Der große Verlierer war die argentinische Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund ist es völlig irrelevant, ob der neue argentinische Staatspräsident Javier Milei die Volkswirtschaft dollarisiert. Entscheidend für den Erfolg seiner Politik ist, die lange Phase der Staatsdefizite zu beenden. Zumal Argentinien sowieso die US-Dollar für eine Dollarisierung fehlen.
Grundsätzlich haben also Länder, die ihre Staatsdefizite vollständig mit Fremdwährungskrediten finanzieren, ein großes Risiko von Schuldenkrisen. Im gewissen Sinne sehen sie sich dem modifizierten Geldsystem in seiner reinen Form gegenüber, da sie keinen Einfluss auf die Geldproduktion haben und komplett von ausländischen Investoren abhängig sind. Natürlich gibt es auch hier viele Graustufen – und Argentinien ist ein Extremfall.
Japan ist ein Paradebeispiel für den zweiten Fall. Der private Sektor in Japan ist so sparfreudig, dass er eine Staatsverschuldung von etwa 250 Prozent des BIP finanzieren und gleichzeitig sogar noch zusätzlich Vermögen im Ausland aufbauen kann. Japan ist also nicht abhängig von ausländischen Investoren und kann sich frei entscheiden, ob es dem alten oder neuen Geldsystem folgen möchte. Auch ist Japan von einem schwachen Konsum und einer strukturell niedrigen Inflation geprägt. Das Risiko einer Schuldenkrise ist somit sehr gering. Sollte die japanische Bevölkerung plötzlich konsumfreudiger werden, hat die Regierung die Möglichkeit, mithilfe von Steuererhöhungen wieder Budgetüberschüsse zu erzielen und die Verschuldung abzubauen.
Auch China passt in diese Kategorie. Trotz einer Gesamtverschuldung von über 300 Prozent des BIP ist China in der Lage, jedes Jahr sein Auslandsvermögen auszubauen. Auch ist China geprägt von einem schwachen Inlandskonsum und einer niedrigen Inflation – unter anderem auch aufgrund der Immobilienkrise. Die Sparquote in China ist also ungemein hoch.
Die chinesische Regierung kontrolliert die Zentralbank und das Finanzsystem und könnte also jederzeit die Geldproduktion anwerfen und somit die Konjunktur stimulieren – also ins alte Geldsystem zurückkehren – ohne dabei eine übermäßige Inflation zu generieren.
Offensichtlich gibt es Bedenken innerhalb der Regierung, diesen Weg zu gehen. Die chinesische Regierung hat aber immer völlige Handlungsfreiheit und wird dafür sorgen, dass die Krise am Immobilienmarkt nicht in eine Finanzmarktkrise mündet. Wir sehen die chinesische Volkswirtschaft vor diesem Hintergrund vor einer mehrjährigen Phase der Stagnation, bis der überdimensionierte Immobilienmarkt wieder ein Normalmaß erreicht hat.
Die USA sind ein Paradebeispiel für den dritten Fall, der eigentlich eine Mischung aus dem ersten und zweiten Fall ist. Die USA können sich komplett in heimischer Währung verschulden, da die ganze Welt US-Dollar haben möchte. Es droht also zu keiner Zeit eine Schuldenkrise. Gleichzeitig sind die USA von einer starken Inlandsnachfrage sowie einer geringen Sparneigung geprägt und müssen daher etwa die Hälfte ihrer Staatsdefizite durch ausländische Investoren finanzieren. Laut der offiziellen Budgetbehörde der USA hat die Staatsverschuldung schon jetzt eine Höhe wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht – und könnte sich sogar bis 2050 noch einmal verdoppeln. Wären die ausländischen Investoren nicht mehr bereit, die US-Defizite zu finanzieren, muss entweder die Regierung sparen (Rezession) oder die Zentralbank Anleihen kaufen (Inflation).
Der Grund für die hohe Verschuldungsdynamik in den USA
Zwei Faktoren beeinflussen maßgeblich den Trend der Staatsverschuldung: einerseits die Differenz zwischen Zins und Wirtschaftswachstum sowie andererseits das Staatsdefizit ohne Zinszahlungen. Die Budgetbehörde der USA schätzt, dass der durchschnittliche Zinssatz auf die ausstehenden Staatsanleihen im Jahr 2024 niedriger ausfallen wird als das Wirtschaftswachstum. Daher sollte eigentlich die Staatsverschuldung fallen. Das Staatsdefizit wird jedoch mit 3,0 Prozent des BIP ungewöhnlich hoch geschätzt, sodass insgesamt mit einem Anstieg der Staatsverschuldung von etwa 2,0 Prozentpunkten des BIP gerechnet wird.
Für die Eurozone schätzt die EU-Kommission dagegen einen Rückgang der Staatsverschuldung von -0,7 Prozentpunkten des BIP, da das aggregierte Staatsdefizit aller Mitgliedsländer der Eurozone mit etwa 1,0 Prozent des BIP niedrig ist. Die Eurozone ist also in einer deutlich besseren fiskalischen Position als die USA.
In den USA gehen nämlich die Baby-Boomer verstärkt in Rente und nehmen infolgedessen zunehmend die staatlich finanzierten Renten (Social Security) und Gesundheitsversorgung (Medicare) in Anspruch. Das Staatsdefizit ist also struktureller Natur und dadurch umso mehr problematisch. Laut der Fiskaltheorie des Preisniveaus ist gerade die Erwartung an künftige Defizite eine entscheidende Größe für den Inflationsausblick.
Ist das Staatsdefizit derzeit zwar hoch, besteht aber die Erwartung bei den Wirtschaftsakteuren, dass in Zukunft wieder Budgetüberschüsse erzielt werden und die Staatsverschuldung wieder sinkt, gibt es keine Auswirkungen auf das Preisniveau. Unter dem Goldstandard hatten Länder oft in Kriegen hohe Defizite und koppelten sich temporär vom Goldstandard ab. Nach dem Krieg kehrten sie wieder zum Goldstandard zurück und reduzierten die Staatsverschuldung infolge von Budgetüberschüssen. Das Preisniveau schwankte zwar immer wieder etwas, blieb aber per Saldo stabil.
Ist das Staatsdefizit derzeit hoch und besteht die Erwartung anhaltend hoher Staatsdefizite, dann droht das Vertrauen in die Geldwertstabilität verloren zu gehen. Anhaltend hohe Defizite sind nämlich nur dann möglich, wenn die Zentralbank diese zumindest teilweise finanziert. Ein Vertrauensverlust bedeutet, dass die Anleger ihr Geld aber schon jetzt in Sachwerte investieren beziehungsweise ins Ausland in Sicherheit bringen. Die Inflation kann bei einem Vertrauensverlust dann sofort entstehen.
Laut der Projektion der offiziellen US-Budgetbehörde drohen in den USA in den kommenden Jahren erhebliche Defizite, die sogar in der Tendenz noch größer werden könnten. Die Rendite von US-Staatsanleihen ist zuletzt wieder merklich gefallen und der US-Dollar ist immer noch stark, sodass die Anleger offenbar immer noch damit rechnen, dass die Politik die Defizite in Zukunft wieder deutlich reduzieren kann.
Das große Risiko ist jedoch, dass im Präsidentschaftswahlkampf neue Versprechen gemacht werden, die Steuern zu senken bzw. die Staatsausgaben zu erhöhen. Das könnte ein Auslöser für einen Vertrauensverlust in die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen der USA werden, da die USA sehr stark auf ausländische Anleger angewiesen sind, die in der Regel schneller und empfindlicher auf negative Nachrichten reagieren.
Großbritannien als Beispiel für Vertrauensverlust
Ein gutes Beispiel dafür, wie ein Vertrauensverlust ablaufen kann, ist Großbritannien im Herbst 2022, als die damals frisch gekürte Premierministerin Liz Truss die größten Steuersenkungen jemals in Großbritannien ankündigte und eine Erhöhung der Staatsausgaben. Großbritannien ist in einer vergleichbaren Lage wie die USA – Verschuldung in heimischer Währung, aber Abhängigkeit von ausländischen Anlegern. Diese Ankündigung sorgte für einen Vertrauensverlust bei ausländischen Anlegern, die nicht mehr in britische Staatsanleihen investierten. Die Folge war ein merklicher Anstieg der Rendite von Staatsanleihen und eine merkliche Schwäche des britischen Pfunds.
Die Bank von England griff zwar stabilisierend ein und kaufte Staatsanleihen, die Finanzmärkte beruhigten sich aber erst, nachdem die Regierung eine Kehrtwende machte und plötzlich Sparmaßnahmen diskutierte. Hätte nur die Bank von England eingegriffen, die Regierung aber an ihren Plänen festgehalten, hätte es wahrscheinlich einen Crash der britischen Währung gegeben.
Alles Gute für 2024 wünscht
Edgar Walk
Chefvolkswirt Metzler Asset Management
1Laut einer Studie lohnte es sich für ausländische Investoren trotz der wiederholten Schuldenkrisen in argentinische Anleihen zu investieren. Über einen Zeitraum von 1802 bis 2016 erwirtschafteten argentinische US-Dollar-Staatsanleihen eine Überrendite gegenüber US-Staatsanleihen von knapp 6,0 Prozent pro Jahr. Josefin Meyer, Carmen Reinhart and Christoph Trebesch (2021): „Sovereign Bonds since Waterloo.“ Kiel Working Paper
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